DD199 Die Realität ist alternativlos – Welche Überzeugung sollte ich haben?

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DD199 Die Realität ist alternativlos – Welche Überzeugung sollte ich haben?

„Hallo? Ist da diese Londoner Kanzlei?“ – „Yes, ja, klar. Sie sind aus Deutschland? Brauchen Sie ein Gesetz?“ – „Nein, nein, nicht vor der Bundestagswahl. Stimmt es, dass Sie alle Gesetze für alle Länder in der Welt als Auftragswerk schreiben?“ – „Ja, schon. Wir leben davon. Wir beraten gründlich. Da wir alle Gesetze für alle Länder schreiben, können wir gut abkupfern. Da haben wir einen Vorteil. Eine Regierung kennt ja allenfalls die eigenen Landesgesetze, na, wahrscheinlich auch nicht. Die meisten Regierungen machen irgendetwas, dann schauen die Gerichte, ob es erlaubt ist. Ach, ich mache schon wieder Reklame für uns. Sind Sie von der Presse?“ – „Nein, ich will eine Parteiabsplitterung ausgründen. Ich weiß noch nicht, ob nach rechts oder links. Haben Sie da auch etwas? Ich meine, verkaufen Sie auch Visionen?“

 

„Hmmh, es kommt auf den Fall an, eigentlich machen wir das nicht, oder es ist geheim.“ – „Ja, natürlich soll es geheim sein. Ich zahle auch gut. Haben Sie auch die Parteiprogramme der jetzigen Parteien geschrieben?“ – „Das ist doch immer geheim!“ – „Ich meine es nur, weil die Programme alle so ähnlich aussehen, da können Sie doch auch abkupfern und verdienen sich eine goldene Nase?“ – „Ja, also, wissen Sie, es ist geheim. Wir arbeiten also für keine Partei, Sie verstehen mich?“ – „Ich möchte eine Vision, ist egal welche, ich will nur gewählt werden, geht das?“ – „Hmmh, es sind nur noch wenige mögliche Visionen im Angebot, die noch keiner hat. Wir empfehlen Visionen nicht mehr so stark. Sie sollten einfach vage auf die Mitte zielen, weil da die meisten Stimmen zu holen sind. Die Mitte jedes Volkes hat ganz schwammige Ansichten, die müssen Sie bedienen. Das empf… es ist geheim.“

„Wenn ich jetzt eine schwammige Vision haben möchte, wie gehe ich konkret vor?“ – „Sehen Sie, die Mitte ist heute in Deutschland gut attackiert. Ich erkläre es Ihnen. Deutschland ist christlich geprägt und leidet unter einem harten Arbeitsethos, das als himmelsöffnend gilt. Sie können also „christlich“ direkt als Vision nehmen oder in etwas weltlicherer Form als „sozial“. Ja, oder Sie betonen die „Freiheit“, aber die erwartet keiner mehr so arg, das ist schon dritte Wahl, da bekommen Sie kaum fünf Prozent, das empfehlen wir nicht. Die Christen kennen ja den Freitag als Fastentag, an dem man vorrangig fastet (genau das ist die Idee daran) – als erste Grundregel isst man kein Fleisch. Wer es pervers sieht, frisst sich am Freitag mit Pflanzen voll – es ist aber eigentlich das Fasten gemeint. Diese christliche Sitte kann man zum Beispiel als Veggie-Day ummodeln, das ist dann eine Art Wahlversprechen, dass man nur noch Pflanzen essen soll, aber nicht mehr fasten muss. Wir könnten etwas in dieser Art für Sie als neuartige Überzeugung designen.“ – „Haben Sie denn den Veggie-Day auch designt?“ – „Nein. Klares Dementi. Es ist geheim, alles ist geheim. Haben Sie selbst eine Idee? Die könnten wir Ihnen doch auch verkaufen, so wie bei den Gesetzen?“

„Ja, nein, ich weiß nicht. Vielleicht selbstfahrende Autos, die computergesteuert immer Vorfahrt haben, wenn ein Besserverdiener drinsitzt?“ – „Uiih, danke! Das ist eine gute Idee. Kaufen Sie die?“ – „Das ist doch meine eigene!“ – „Aber sie hat etwas mit ‚Leistung muss sich lohnen‘ zu tun, da kommen Sie anderen Parteien ins Gehege, da müssen wir noch hart dran arbeiten, wer jetzt welche Zielgruppe haben darf.“ – „Wieso?“ – „Na, Sie kämpfen dann um eine gleiche Zielgruppe, die ist schon verkau… das ist geheim.“

„Und wie viel kostet das?“ – „Wir bekomm… das ist geheim, äh, wir verlangen einen Anteil an den Staatsgeldern pro Stimme. Moment, da fällt mir ein: Wir haben noch eine Vision ‚rettet die kleinen Fische‘, wie wäre das?“

„Hmmh nein. Kleine Fische, Anwalt der Armen, die gehen dann nicht wählen, weil sie an Versprechungen nicht mehr glauben. Wie wäre es mit NSA? Ich könnte eine Partei gegen das Ausspionieren durch die NSA gründen, da komme ich möglicherweise locker über die 5-Prozent-Hürde.“ – „NEIN! LASSEN SIE DAS!“ – „Oh, sie echauffieren sich ja! Ist diese Überzeugung denn schon verkauft?“ – „Oh, dafür ist unsere Kanzlei zu klein. Da kann ich wütend werden, da kommen jetzt Leute ins Business, ich sage Ihnen, wo bleibt der Anstand! – Das bleibt nicht geheim, sagen ich Ihnen… Entschuldigung, ich zittere ein bisschen, Sie hätten nicht NSA sagen dürfen, da sind ja alle verwickelt und wir bekomm… Das ist geheim. Die Altparteien, ich meine… Ach…

Was wollte ich sagen? Genau, zur Hauptsache! Wollen Sie eine Farbe kaufen? Die Farbe ist bei einer Partei das Allerwichtigste. Daran erkennt man sie sofort und man muss nur halb so viel über Wahlplakate nachdenken, weil damit schon das meiste ausgefüllt werden kann. Schauen Sie, alle Parteien gehen den Weg, sich Teile der christlichen Grundüberzeugung zum Leitbild zu machen. Deshalb unterscheiden sie sich kaum, auch deshalb nicht, weil sie sich im Alltag dann nicht so genau daran halten. Aus diesen Gründen kommt der Farbe der Partei eine ganz überragende Rolle zu. Durch sie allein differenzieren sich die Parteien vollkommen eindeutig. Wenn die Wähler auf ein Plakat schauen, sehen sie meist schwarz oder rot, da ist gleich vollkommen klar, was es geschlagen hat. Es gibt noch Blau im Angebot, wollen Sie Blau?“

 

„Die blaue Partei ist doch beim Karneval in Köln!“ – „Düsseldorf, Mist, Sie wissen da etwas. Mist, Blau wird einfach nicht gekauft. Kommen Sie, nehmen Sie Blau. Nur Blau-Weiß geht nicht, Blau-Weiß ist derzeit top.“ – „Das liegt an der Maut! Die sind da im Süden vollkommen verrückt, sie glauben, sie können Maut für Fremde einführen und gewinnen die Wahl! Man könnte glauben, die sind echt überzeugt, dass das überhaupt geht. Oder kaufen die ein Gesetz bei Ihnen? Geht das? Ist diese Überzeugung einer Maut auch von Ihnen?“ – „Nein, bitte, Hilfe, nein, das ist geheim. Unter uns: So eine doofe Überzeugung würde uns Juristen hier im Traum nicht einfallen, das wird uns jetzt zum Vorwurf gemacht. Da ist jetzt eine Wahl mit einer unabgestimmten unbezahlten Amateurüberzeugung und mit eigenem Brustton gewonnen worden! Das gibt Ärger, weil das ganze Gewerbe darunter leidet, wenn es jemand ohne jede Beratung schaffen kann. Es ist ein Desaster. Ich meine, wir hier operieren international, da trifft es uns nicht so hart. Aber für normale Visionen wird es jetzt schwer. Ich denke, wegen dieses Wahlsieg-Gaus mit Eigenunsinn wird es wieder eine Hinwendung zu speziellen eigenen Überzeugungen kommen – wenigstens für ein paar Monate, bis sie damit scheitern. Es war eine Ausnahme!!“

 

„Kann ich denn nicht eine ganz kleine eigene Vision kaufen, wovon ich echt überzeugt bin?“ – „Warum wollen Sie so etwas?“ – „Sie ist viel billiger, oder?“ – „Hilfe, es ist dann doch eine Sonderanfertigung! Eine eigene Meinung! Einzelanfertigung! Kein Abkupfern! Eine eigene Meinung ist im Gegenteil ungeheuer viel teurer – was denken Sie denn! Sie müssen die Realität anerkennen!“

 

„Aber ich will als Marktlücke die Realität nicht anerkennen! Ich meine, das tun doch die jetzigen Parteien auch nicht. Sie zeigen sich Stinkefinger, dementieren bewiesene Altlasten oder fordern Ausländer-Maut. Ich nehme dann die NSA-Affäre, die erkennt ja auch nicht die Realität an.“ – „Hilfe, das wird zu teuer, das… das ist geheim! Verstehen Sie doch: Die Realität ist alternativlos. Wenn Sie davon fest überzeugt sind, gewinnen Sie.“

 

„Ich will doch zuerst nicht gewinnen, nur eine eigene Überzeugung haben – eine kleine ganz eigene, nur für den Anfang, es ist auch ein bisschen Eitelkeit dabei!“ – „Okay, da gibt es aber keine Staatszuschüsse. Dann sind Sie auch kein Kassenkunde. Dürfen wir Sie als Selbstzahler annehmen oder haben Sie eine Psycho-Versicherung?“

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18 Antworten

  1. ich seh schon – ich bin zu spät.

    Ich hatte die Idee eine Partei zu gründen die einfach nur die Fluchtmöglichkeit für alle ist, die – wie ich – nicht wissen was sie wählen können um irgendwann doch mal etwas in die „richtige“ Richtung zu bewegen….
    Also die „Wir können euch alle nicht mehr guten Gewissens wählen“-Partei.

    Aber das ist wohl nicht möglich, geheim, und sowieso…. naja, oder ist es alternativlos ??

    Das Problem: ich glaube die Mehrheit würde auf Anhieb diese Partei wählen…. und was dann????

    1. Dem kann ich nur beipflichten! Den ersten Wähler hätten Sie in mir gefunden – wobei ich sagen muss, dass ich mir auch schon Gedanken dazu gemacht habe, dass nach der Wahl einer solchen Partei auch Politik gemacht werden muss.
      Meine Alternatividee deshalb: Ein Feld auf dem Wahlzettel mit dem Titel: „Ihr seid alle Sch…“ – Ok, zugegeben, die Ausdrucksweise muss noch überdacht werden…

  2. Wieso sind die Piraten keine Alternative?
    Gunter hat sie doch quasi auch schon empfohlen. Klar die Umsetzung hapert noch…- doch um ein Zeichen zu setzen, dass ein „Nur weiter so“ von mir als Wähler nicht gewünscht wird, taugt dieser Weg. Es bewegt sich auf jeden Fall was, wenn die „reinkommen“…

  3. Ein erfrischender Text. Danke für das Schmunzeln auf meinem Gesicht, es gibt in diesen (Wahl)Tagen ja tatsächlich wenig zu lachen.

    Im Übrigen besteht die von den Vorrednern benannte/gewüschte Partei bereits: http://www.parteidernichtwaehler.de/

    Aber ist das eine Alternative? Hat, wer nicht Wählt noch eine Wahl?

    Vielleicht sollten Sie tatsächlich mal eine Partei gründen, mich begeistern Sie bereits. Mit Inhalten überzeugt ja eh kaum eine Partei.

    Viele Grüße und weiterhin einen charmehaften Galgenhumor…

      1. Genau, Die Partei von Schönenborn, die blabla auch genauso schreibt und bei verlorenen Wahlen auswandern wird 😉

        Etwas ernsthafter wohl die Partei der Nichtwähler, gibts auch. Das Programm kenne ich aber nicht.

        @dueck: lustige Persiflage! Dürrenmatt, würde er noch leben, würde sowas schreiben. Aber im Ernst: beim Regieren stören die Laien, und Gesetze sind zu kompliziert, um sie von einem Parlament aus Laien (gut, es gibt dort sehr viele Juristen…) konzipieren zu lassen. Unsere Eigenbeschreibung als „Rechtsstaat“ und dessen immer stärkere Durchdringung lassen das gekonnte Wort (jur. Idioms) zum Verstecken des Gewünschten immer bedeutender werden (merkt man eigentlich, dass ich nebenher Jura studiere, um das zu knacken, an der Sprache oder so ;-). Was hier geschrieben steht, ist REALITÄT.

  4. Als Auslanddeutscher bekomme ich nicht mal die Wahlunterlagen zugeschickt geschweige denn eine Information diese Unterlagen irgendwo zu beziehen, wie soll das denn schon demokratisch sein wenn man systematisch ausgegrenzt wird.
    Mein Vorschlag zur Wahl wäre, dass man den Bundestag nur mit den Anzahl Sitzen besetzen darf wie %-tual auch die Wahlbeteiligung wäre (Sparpotenzial?). Dann würden sich die Politiker vielleicht mehr Mühe geben. Zumal sind das meiner Meinung nach sowieso zuviele, und Leute mit anzüglichen pantomimischen Äusserungen gehören dort nicht hin. Wie soll man Anstand und Respekt seinen Kindern vermitteln, wenn es schon Politiker so vorleben. Oder was ist Realität?
    Liebe Grüsse aus dem bergischen Indianerdorf

  5. Wir gehen doch alle nur zum Wählen, weil wir an die Demokratie glauben, dabei ist die nur erkauft und viel zu teuer bezahlt, da außerhalb der Parlamente eine „alternativlose“ Politik abläuft. Bestimmte Institutionen auf europäischer Ebene übernahmen den Hebel der Demokratie.
    Welche Partei, welcher Klientel wie viel von unserem Geld verspricht, spielt keine große Rolle, daher ist das Kreuzchen gar nicht mehr so wichtig.
    Wichtiger wäre die Auseinandersetzung mit diesen Umständen.

  6. Man mag ja von den Piraten halten, was man will, aber immerhin hatten sie in dieser doch so extrem austauschbaren Wahl das ehrlichste Wahlplakat: „Entschuldigung, wir haben uns das leichter vorgestellt“, hatte zwar keinen direkten Parteiprogrammbezug aber war für mich mit das ehrlichste. Ich finde es schlimm, wie austauschbar die Politikdarsteller geworden sind und wie offensichtlich es ist, dass hier schon langer nicht mehr die Politik den Weg vorgibt, sondern lobbystarke Interessensgruppen. Insofern, ich würde auch sofort Wähler dieser Partei sein, die alle aufnimmt, die sonst keine Wahl haben 😉

  7. Lieber DD,
    Sie schaffen es doch wirklich, selbst in einer Satire populistische Thesen zu verpacken. Chapeau! Aber Sie finden ja auch Klaut-Computing Spitze. Aus gesellschaftspolitischen Themen sollten Sie sich als Protagonist virtueller Welten raushalten. Realität ist wohl nicht Ihre Sache, wie Sie ja in Ankündigungsmail schon andeuten.

    Falls Sie die *Grundsatzprogramme* der CSGF-Parteien mal lesen möchten (schwere Kost), schicken Sie mir einfach ein PDF. Sie könnten dann prüfen, ob die wirklich alle gleich sind.

    Und: Wozu wählen gehen? Google kennt unsere politischen Einstellungen besser als wir selbst und natürlich besser als die NSA.

  8. Mir gefällt die Idee von Boris Götz:
    Also wenn man schon unbedingt wählen muss und die etablierten Parteien nicht wählen will, dann sollen die auch nicht auf Umwegen meine Stimme bekommen.
    Also eine Partei wählen die verbindlich verspricht, nicht im Bundestag aufzutauchen. Das sortiert div. „kleine“ Parteien endlich aus und sorgt vielleicht dafür, dass sich die „Großen“ zu einer vernünftigen Politik zusammenraufen müssen, wenn sie beim nächsten Wahlgang nicht noch mehr Stimmen verlieren wollen.
    Jedenfalls sollte man mal beim BVG überprüfen lassen, ob es zulässig ist, dass meine abgegebene Stimme einfach einer nicht von mir gewählten Partei zugerechnet werden darf.
    Jeder der sich mit Mathematik auskennt schlägt die Hände über dem Kopf zusammen:
    Bayernwahl 2013
    Wahlbeteiligung 63,9%
    CSU 47,7% (also von 63,9%)
    und das soll eine absolute Mehrheit sein?????
    Schon die 47,7% sind es nicht!!!!
    Bezogen auf die Wahlbeteiligung sind es nur 30,5%
    Wir bezahlen für viel zu viele Politiker in den Landtagen und im Bundestag und alle behaupten, mich zu vertreten, obwohl ich sie gar nicht gewählt habe. Das muss sich ändern!!

  9. Lieber Herr Dueck,

    ein bisschen geknickt bin ich schon, dass ausgerechnet ein solch brillanter Kopf wie Sie jetzt die Reihen derer vergrößern, die Häme mit konstruktiver Kritik und schlechte Laune mit politischer Meinung verwechseln. Der „Spiegel“ von dieser Woche vollbringt eine zwar brachiale, aber auch längst fällige Abrechnung mit dem Lieblingsvorwand der Nichtwähler, die behaupten, dass alle Parteien gleich seien – und führt gleich eine ganze Liste von Punkten an, in denen die Parteien ganz im Gegenteil ziemlich grundsätzlich auseinanderklaffen (z.B. Bürgerversicherung, Energiewende, förderungswürdigstes Familienmodell, Herdprämie vs. arbeitende Frauen, Homo-Ehe…).

    Es ist ja nicht so, als würden die Kritiker bestaunenswert konstruktive Gegenentwürfe liefern, zumindest nicht viel, was über „die müssten doch bloß-Konzepte“ oder die Aussagen à la „man müsste mehr Geld in XXXX stecken“ hinaus geht. Auch parteienmäßig müssen wir uns jetzt anscheinend an aggressive Ein-oder-zwei-Punkte-Parteien gewöhnen, die sich von relativ schlichten Stammtischvisionen nähren, wenngleich hier und da mit volkswirtschaftlichem Lack, und die meinen, dass „gegen etwas zu sein“ schon eine politische Kompetenz sei.

    Dass der Wähler meint, die Politik habe ihm gegenüber die gesamte informatorische Bringschuld und er selbst habe nur in seinem Fernsehsessel darauf zu warten, dass jemand an seiner statt die Parteiprogramme studiert und ihn Löffel für Löffel mit Meinungsbausteinen füttert und vielleicht gar Sonntag für ihn aufsteht und wählen geht, ist wahrscheinlich eine Nebenerscheinung des Entertainment-Zeitalters und der Gewöhnung unserer Gehirne daran, sich im Zweifelsfall passiv zu verhalten und sich vornehmlich durch externe Reizfluten statt aus inneren und über längere Zeit erarbeiteten Denkprozessen heraus zu aktivieren. Damit, dass der Wähler jetzt aber seine eigene Trägheit auch noch damit übertüncht, irgendwie besser als „die Politik“ zu sein sodass sie seiner Stimme nicht einmal mehr würdig sei, kultiviert er letzten Endes nur sein eigenes „Bringt-ja-eh-nichts“-Ohnmachtsgefühl, das er sich mit dem Zweck angezüchtet hat, sich das Gewissen von seiner politischen Gleichgültigkeit reinzuwaschen.

    Diese Rechtfertigungsverhältnisse der Gleichgültigkeit schaffen eine Lücke, die begierig von zielstrebigen Interessengruppen gefüllt wird, die sich sehr wohl fürs Politische interessieren und darüber freuen, dass immer weniger Bürger die Demokratie als ein Betriebssystem mit Selbstbeteiligung wahrnehmen. So können sie dann in Ruhe die Hinterzimmer der Politik mit ihren eigenen Partikularinteressen bearbeiten. Das verdanken wir auch den medialen und prominenten Lächerlichmachern des Politischen.

    Wenn solche Rechtfertigungsverhältnisse nämlich auch durch Vordenker allen Kalibers gestärkt und legitimiert werden, was sagt das dann über den Zustand unserer Demokratie aus? Demokratie lebt von Beteiligung – auch und gerade zwischen den Wahlen – und stirbt an Gleichgültigkeit. Sind wir in Deutschland einfach zu satt?

    Sorry, das war jetzt ziemlich schlecht gelaunt meinerseits. Aber dass ausgerechnet Sie jetzt auch in diese Kerbe hauen, das war zu viel für heute…

    1. Hallo Herr Hohmann,

      aber ich habe ein ganzes Buch geschrieben, Titel „Aufbrechen“, oder? Da sage ich inhaltlich, was zu tun wäre, nicht so Kleinkram wie Steuersätze adjustieren…in diesem Sinne MÜSSEN Politiker doch etwas tun, neue Industrien anschieben etc. Das tun sie alle nicht, nur immer Betreuungsgeld hier ein bisschen, da ein bisschen.
      So einen richtigen Aufbruch wollte ich auch gerne als IBM-Cloud Manager und da lese ich gerade dies:
      http://www.businessweek.com/articles/2013-09-19/ibms-rometty-needs-to-prep-the-tech-giant-for-the-cloud-computing-era?campaign_id=yhoo

      VIER volle Jahre später, nachdem Cloud als wichtige Zukunft klassifiziert wurde. AUFBRECHEN, das will aber keiner – immer nur Geld hier, Geld da… da werde ich leidenschaftlich! Und in diesem Sinne SIND die Parteien gleich. Und in diesem Sinne KANN der Einzelne nicht für sich anfangen, wenn nicht einmal oben eine grobe Richtung eingeschlagen und unterstützt wird.

      Gruß GD

      1. Lieber Herr Dueck,

        ich will Ihnen nicht widersprechen, dass es viel Grund dazu gibt, mit der Politik unzufrieden zu sein. Aber jetzt nehmen Sie mal an, dass nicht nur Sie, sondern z.B. 80 Millionen auch einen ganz großen Wurf verlangen, aber all diese Würfe in 80 Millionen unterschiedliche Richtungen gehen. Egal, welchen großen Wurf man umsetzt, hat man (klar: ich übertreibe ein bisschen) einen Zufriedenen und 79.999.999 Unzufriedene, die dann mit Schmollen und Nichtwählen drohen.

        Ich fände es wichtig, daran zu erinnern, dass Demokratie immer aus Kompromissen besteht, dass somit jeder Grund zu Unzufriedenheit hat, und dass die besten Kompromisse jene sind, die die Unzufriedenheit gleichmäßig verteilen. Die Suche nach der goldenen Mitte zwischen solch zahlreichen und unterschiedlichen Individualstrategien hat auch immer etwas mit Mittelmaß zu tun. Man mag es beklagen, aber es ist so.

        Heute ist es aber so, dass im satten Deutschland eine Menge Menschen, die es in den ersten 20 oder 30 Jahren ihres Lebens von Papa, Mama und dem Staat hinten und vorne rein gesteckt bekommen haben und der absolute Mittelpunkt ihrer kleinen Familienwelt waren (welche sich durch ausreichend Zetern auch prima steuern und manipulieren ließ und wo auch Rotz und Trotz noch mit Elternliebe belohnt wurden), irgendwann auf eigenen Beinen stehen und dort mitunter auch weit nach 40 mit der Einsicht nicht klar zu kommen scheinen, dass sie nicht mehr im Mittelpunkt von einer Dreier- oder Vierergesellschaft stehen, sondern nur noch irgendjemand unter 80 Millionen sind, und die 79.999.999 anderen auch Forderungen und Wünsche und Sehnsüchte haben. Viele finden aber weiterhin, dass die Politik ihnen zu 100% oder wenigstens 80% ihre eigene ganz persönliche Weihnachtswunschliste erfüllen sollte, sonst wird geschmollt, nicht mehr gewählt, vielleicht gar eine Antiwählpartei gegründet, mittlerweile stilisieren sich manche Nichtwähler ja sogar schon zur diskriminierten Minderheit hoch!

        Mir fehlt da einfach die Demut. Demokratie ist auch eine Demutslektion: Ich bin nicht so wichtig, wie ich glaube, sondern ich bin nur einer von 80 Millionen. Und: Von Schmollen werde ich nicht wichtiger.

        Und natürlich soll die Politik immer die Wahrheit sagen, findet der (Nicht)Wähler. Aber wenn sie die Wahrheit auch mal sagt, wird sie abgewählt, weil Wahrheit oft nicht so gut klingt. Merken denn diese (Nicht)Wähler nicht, welch widersprüchliche Forderung sie da stellen? Steuern runter, Schulden runter aber Leistungen rauf? Erneuerbare Energien aber ohne Mehrkosten und nicht in meiner Sichtweite? Nie lügen aber die Wahrheiten sollen bitte nur angenehm sein? Wer will denn den Politik-Job eigentlich noch machen? Kein Wunder, dass die Parteien ein Nachwuchsproblem haben: Wer will schon als Spitzenpolitiker eine 80- oder 100-Stundenwoche absolvieren, aufs Privatleben verzichten und dann die „Kunden“ einem nur süffisant gegen das Bein pinkeln und Tiraden liefern sehen, die mit „ihr habt ja keine Ahnung“ anfangen? Wer soll sowas denn aushalten? Wir tun so, als wären wir (Nicht)Wähler Zuschauer des Systems. Sie haben mal Stephen Covey empfohlen. (Ein guter Rat! Seine „seven habits“ gefallen mir.) Der schreibt: Eine Organisation bekommt, was sie belohnt. Wenn der Wähler Wahrheit und langfristige, gesunde Politik will, dann soll er sie nicht nur fordern, sondern auch wählen. Und vorher vielleicht erst mal seine eigenen Widersprüche lösen.

        Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Sie meine ich gar nicht so sehr mit dem Obigen. Ich mag sie ja! Ich wünsche mir einfach, dass die klugen Vordenker, zu denen ich Sie zähle, dieses erklärungsbedürftigste aller politischen Systeme auch erklären helfen statt es durch den Kakao zu ziehen. Denn wenn die es nicht tun, wer dann? Und was bleibt danach von der Demokratie übrig?

        Freundiche Grüße,
        AH

  10. Der Artikel hat mir sehr gefallen.

    Bei den Politiker (zumindest derer der etablierten Parteien) hat sich leider das Muster einer Verwalters eingebrannt. Ich ärgere mich jedes Mal, wenn Angela Merkel Fragen mit Sätzen wie „die Frage stellt sich derzeit nicht“ oder „ich treffen Entscheidungen, wenn sie anstehen“ beantwortet. Das ist das Gegenteil einer Vision von der Zukunft.

    Leider ist der Wähler daran meiner Meinung nach mitschuldig. Parteien wurden in Deutschland bereits zu oft abgestraft, wenn sie auch nur Reformen angekündigt haben, die mit Veränderungen für die Bürger verbunden sind (bestes Beispiel 2005, Prof. Kirchhoff sollte Finanzminister werden).

    Wie hoch würde die Strafe des Wählers wohl ausfallen, wenn Politiker Visionen in ihr Wahlprogramm schreiben würden und die Bürger zum Aufbrechen auffordern?
    Neben mangelnder Kreativität ist es vermutlich auch diese Angst um Stimmenverlust, die Politiker dazu bringt, Themen totzuschweigen, bei denen wir per se schon so etwas wie eine kleine Vision bräuchten (z.B. die Vision von Europa und dem Euro, oder die Vision der Gestaltung einer zunehmend digitalisierten Welt).

    Eine Lösung hab ich natürlich nicht. Ich denke aber, dass zumindest sowohl Politiker als auch die Medien den Bürgern die Chancen und Möglichkeiten von Visionen und Zukunftsthemen näher bringen müssten anstatt nur deren Ängste zu bedienen.

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