DD242: Shu – Ha – Ri, die drei Stufen der Meisterschaft (Juni 2015)
Über dieses Thema habe ich schon einmal geschrieben (ausführlicher im Kolumnenband Jahrmarkt der Futuristik). Jetzt kam ich durch einen Leserbrief wieder darauf zurück. Als ich neulich „Bäume sollen nicht dem wechselnden Licht nachwachsen, sondern nach oben in den Himmel“ formulierte, fragte jemand, was ich denn mit „Himmel“ genau meinte. Das ist eigentlich sonnenklar, aber so ganz und gar nicht explizit, nicht wahr?
„Himmel“ ist „Ri“.
Es geht um die drei Stufen des Lernens in der japanischen Kampfkunst. Die heißen Shu, Ha und Ri. Es bedeutet so etwas wie Lehrling, Geselle und Meister, wahrscheinlich aber eher wie Lernender, Meister und Großmeister. Okay, ich drücke es so aus wie in Japan:
- Shu (Level1): „Gehorche.“ Grundlagen, Einführungen, Regeln, Techniken – die werden gelernt und stur eingeübt, immer wieder, ganz diszipliniert – ohne Abweichungen oder Kompromisse etwa an die eigenen Talente oder die Persönlichkeit. Diese Techniken stammen von den großen Meistern der Vorzeit, sie sind erprobt und gut (Am Ende von Level 1 steht der Erwerb des Black Belt.).
- Ha (Level 2): „Probiere.“ Durch Experimentieren mit anderen oder neuen Formen entwickelt sich nun ein eigener Stil. Man findet zu eigenen Formen und Techniken. Der einstige Schüler wird erwachsen – er unterwirft sich nicht mehr wie als zu trainierendes Kind den rigiden Regeln. Als Meister erwirbt der die höheren Schwarzgürtelgrade.
- Ri (Level 3): „Verlasse.“ Der wahre Großmeister befreit sich – löst sich von der Form, den Lehren und von den Stilen seiner Lehrer (es bleiben trotzdem seine Lehrer, aber so wie der Großvater den Vater noch lehrt).
Die Regeln auf dem ersten Level werden als quasi unveränderlich gesehen, so wie ein angehender Theologe erst einmal die ewige Bibel „auswendig lernt“.
Soll ich es noch einmal im Rahmen der Kochkunst erklären? Die unterste Stufe ist das Tütensuppenniveau: Man bereitet eine Mahlzeit exakt nach der Verpackungsvorschrift oder dem Rezept zu. In Stufe 2 variiert man die Zutaten, versteht die Rezepte als Grundvorschrift, die je nach Saison und Esser einen neuen Stil bekommen. Der ***Meister aber kennt keine Rezepte mehr und kocht Wundervolles.
So stellt man sich eben auch Bildung vor. Erst wird gnadenlos eingetrichtert (bis zum Abitur oder auch noch bis zum Master), aber schon während der Promotionszeit dürfen manche von uns einen eigenen Stil finden (wenn die nicht auch noch wie Schüler behandelt werden), danach mag man ein Genie werden. Die Vorstellung ist, dass erst die bewährten Grundlagen ins Hirn müssen. Erst Shu. Ziemlich lange Shu. Selbst die Universitäten sind heute vershut (das waren sie früher nicht; man studierte viel länger, hatte aber die Chance zum Level Ha).
Es gibt auch die andere Richtung. Das ist die Industrialisierung oder Callcenterisierung. Heute wird alles, was ohne Hilfsmittel nur Meister können (Vermögensberatung, Steuerberatung, medizinische Diagnose etc.), vom Ha-Level aus shuisiert. Man ersetzt Können und Gefühl durch Regeln, Rezepte, Computervorschriften, Computerdiagnosen und Conduct Codes. Das freundliche Lächeln von Tante Emma wird nun als antrainiertes „Hallo“ an der Kasse dargeboten. Kein Ri mehr („Ausstrahlung“), kein Ha (echte Freundlichkeit). Viele Manager, Betriebswirtschaftler und Berater leben von der Shuisierung von großen Ideen.
Sie suchen wie Trend Scouts, ob irgendwo ein Genie eine tolle Idee hatte – die schlachten sie sofort aus, indem sie sie auf großer Skala global shuisieren. Sie führen Standards ein und schulen. Sie macdonaldisieren und aldisieren.
Auf der anderen Seite wollen sich viele nach oben weiterentwickeln und ein Meister, Künstler, Unternehmer, Sportstar oder Model werden. Sie fallen dann meist auf Coaches und Lehrer herein, die ihnen weismachen, dass man alles wie ein Handwerk erlernen könne. Besonders viele Ratgeber verheißen das mögliche Erreichen des Ziels durch einfache Lektüre und ein bisschen Mitmachen. Dann werden die hoffnungsvollen Schüler auf der Stufe Shu traktiert, weiter passiert nichts.
Es gibt nur wenige Meistertrainer, die jemanden auf Stufe Ri bringen könnten – und das verlangt meistens trotz aller Übung neben großem Talent auch noch Jahre an Anstrengung und eine gewisse Geisteshaltung, wie ich sie bei Musashi, dem größten aller Samurai in etwa so gefunden habe: „Übe, als seiest du für die Neuentwicklung der Lehre selbst verantwortlich.“ – „Tue dies, als könnte es niemand anders tun.“
Gerald Hüther sagt ja immer, jedes Kind sei irgendwo hochbegabt. Ich finde es so: Viele Kinder haben eine geniale Stelle, an der sie bei Resonanz mit einem Etwas, einem Menschen oder einem Sachgebiet, eine Anlage zur Stufe Ri haben. Die müsste man fühlen können und das Kind an dieser Stelle individuell entwickeln. Und das Kind würde in einen leidenschaftlichen Rausch verfallen und üben, als sei es für die Gründung der Lehre selbst verantwortlich. Das ist Sehnsucht nach Ri. Das Kind würde in der normalen Schule eine Menge auf der Stufe Shu lernen, aber es weiß an (s)einer Stelle, was Ri ist. Und dahin wächst es als Persönlichkeit, und alles wird gut. Aber ausschließlich Shu bis zum 25. Jahr? Das wird zu spät sein.
Wenn sie das aber einem ehrgeizigen Shu-Manager zu erkennen geben, dann liest er wohl mit seinen Augen diesen Text: „Übe so hart, als könnte es niemand sonst außer dir selbst.“ Aber er übersetzt es dann doch wieder, von Ri in Shu: „Du musst bereit sein, ungezählte Überstunden zu machen.“ Und dann durchzieht mich unsäglicher Kummer. Shu-Chefs sind keine Ri-Leader. Sie verstehen den Unterschied nicht. Shu-Menschen schauen nach der Sonne und verstehen den Himmel nicht.
16 Antworten
Toller Beitrag
Guter Beitrag. Vom Management wird immer Ri gefordert, aber nur Shu gefördert. Das ist auch meine Erfahrung.
Das was Sie hier geschrieben haben,habe ich schon lange wahrgenommen und konnte es nie so in Worte fassen. Ich selbst hatte noch das „Glück“ nach alten Regeln zu studieren. Die Zeit mich mit Themen innerhalb meines Studiums zu befassen die mich interessieren (nach den Grundlagen selbstverständlich) und Fragestellungen zu beleuchten mit denen auch die Profs mitgegangen sind. Teilweise verschultes Studium, aber mit mehr freien Gestaltungselementen. Heute im Berufsleben zerre ich imemer noch von diesen Entwicklungsmöglichkeiten, die ich damals genutzt habe und sehe viele meiner Kollegen, die Fragestellungen viel zu eng angehen und nicht in Möglichkeiten denken und Dinge, trotz vorhandener Spielräume, nicht nutzen. Ich habe übrigens BWL und Ökonomie studiert
danke! 100% zustimmung! ihre ri-gedanken beflügeln mein ha und ri! und ri macht richtig spaß!
Sehr geehrter Herr Dueck,
beim Kochen ist die Shu-Stufe nicht Tüten aufreißen, sondern Grundtechniken wie Garmethoden und Warenkunde, auch wenn die Realität leider so aussieht, wie Sie es beschreiben. In Stufe zwei solte es um das Variieren von Rezepten entsprechend der jahreszeitlich vorhandenen Lebensmittel aus der Region gehen, auch wenn die Realität in den meisten Gasthäusern anders aussieht. Erst wenn man das drauf hat, kommt Stufe drei in Betracht, allerdings findet man das nur selten – am ehesten in der Bioküche und der Spitzengastronomie. As früherer Dilsberger fällt mir dazu in Ihrer Nähe aber nichts ein. Vielleicht haben Sie einen Tip.
Mit freundlichen Grüßen
Lothar Klatt
Slow Food-Mitglied
Oh, wir haben einen Michelin-Stern neu: http://www.landgut-lingental.de/gourmet-restaurant-oben/
Hallo Gunther,
Du hast es wieder mal auf den Punkt gebracht.
Das sollten sich mal die Leute von Rocket Internet zu Herzen nehmen, die es zu einem Geschäftmodell (Stichwort: Copycats) gemacht haben, die Ri-Ideen anderer zu shuisieren und dafür auch noch Millionen von Investoren bekommen. Die „Neuentwicklung der Lehre“ bedingt, dass man im Ri auch mal die eigenen Wege aus dem Ha zerstört, damit echte Innovation entstehen kann.
Lieben Gruss aus Berlin
Christian
PS: Ich lese gerade „Schwarmdummheit“ mit großem Genuss 🙂
Dazu fällt mir auch noch die Prä-/Trans-Verwechslung ein (http://hoeberth.de/index.php/philoblog/97-prae-trans-verwechslung):
Es gibt immer wieder Menschen, die noch auf dem Shu-Level sind, aber glauben, sie hätten schon Ri erreicht.
Und dann gibt es die, die in der Konvention steckenbleiben. Es will sich einfach kein Ri einstellen. Wahrscheinlich ist das sogar für die meisten Kompetenzen so. Zu Ri reicht es eben nur manchmal.
Genau!! Diese Verwechslung!
Um hier mal dem allfälligen Kulturpessimismus ein klein wenig Einhalt zu gebieten.
Ich bin Informatikprofessor und nehme die Situation wie folgt wahr:
1. Ich bin grundoptimistisch über sowohl das Talent als auch die Motivation meiner Studierenden und habe deshalb die starke Neigung, in der Lehre immer gleich sehr schnell das Ha-Niveau anzusteuern.
2. Bei Klausuren führt das regelmäßig zu starker Ernüchterung.
3. Aber bei den Abschlussarbeiten (also nachdem sich das Ganze eine Weile setzen konnte) sind dann oft (weitaus nicht immer, aber oft) neben all dem, was noch nicht mal auf Shu-Niveau wirklich ordentlich ist, eine ganze Menge hübscher Ha-Knospen zu erkennen. Das versöhnt.
Alles wird gut.
Ja, das gefällt mir auch.
„Viele Kinder haben eine geniale Stelle, an der sie bei Resonanz mit einem Etwas, einem Menschen oder einem Sachgebiet, eine Anlage zur Stufe Ri haben“.
Zu schön um wahr zu sein oder doch wahr?! Was vor allem bei allem im Text durchklingt, ist ein Glaube ans Machbare des Ri.
Sagte nicht jemand sinngemäss: Etwa 10 % müssten spirituell erwachen, dann würden die Probleme hier hier auf Erden zu lösen sein.
Sir Ken Robinson erklärt auf unterhaltsamer Weise, dass das Ri bei Kindern auch schon gefördert werden kann:
https://www.ted.com/talks/ken_robinson_says_schools_kill_creativity
Prinzipiell gebe ich Ihnen recht. Die „Shuisierung“ unserer Gesellschaft ist sehr weit fortgeschritten. Auf Neudeutsch könnte man durchaus sagen dem „Mainstream“ preisgegeben. Und als Folge davon gibt es eben fast nur noch Shu-Chefs und immer weniger Ha-Chefs. Nur diese wissen, dass sie noch viel zu lernen haben. Aber hier ist auch schon die Crux. Einen „Ri-Leader“ wird es nicht geben, da Ri-Meister bescheiden sind und gar nicht danach drängen „Leader“ zu sein.
Das Schlimme ist, dass der Staat die Shuisierung vorantreibt in dem er immer mehr reglementiert. So bleibt für Ha und Ri immer weniger Platz. Wenn die Shuisierung zum Staatsprinzip wird, führt das letztlich zum Stillstand und zur Degeneration der Gesellschaft. Zwei Beispiele: A Das normale Leben ist bei uns so festgefahren und gemütlich, dass Kinder bekommen und aufziehen immer weniger Platz haben. Die Folge sind unsere Demografischen Probleme. B Alle großartigen technischen Entwicklungen kommen aus Amerika oder Asien. Selbst wenn unsere tollen Autobauer große Displays einbauen, ist es letztlich nur eine Shuisierung. Entweder degenerieren wir ganz in den nächsten Jahrzehnten oder es wird eine Revolution kommen die den ganzen festgefahrenen Kram über Bord wirft.
Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Mit ein Problem ist doch, dass viele Leute heute meinen, man könnte mit „ha“ anfangen.
Also dass sich schon Kinder alles selbstständig erarbeiten. Das ist aber nicht ganz richtig: Auch das will gelernt sein.
Deswegen wird der Wert von Auswendiglernen – sehr wichtig für die Basis von Sprache, Mathematik usw. – als zu gering eingestuft.
Hallo Gunther,
vielen Dank für den schönen Beitrag. Beim Leben einer japanische Kampfkunst und damit auch des Shu Ha Ri Prinzips sind mir zwei wichtige Punkte aufgefallen die bislang wenig Beachtung finden:
Der praktische Hintergrund von Shu Ha Ri ist, dass man im alten Japan mit 15 Jahren kriegsfähig war und auf das Schlachtfeld musste. -> Das Lernen einer guten Basis (Shu) zum Überleben hat eine andere Bedeutung/Wert, da es unabhängig von Begabung usw. um das Überleben ging.
Ohne einen guten Lehrer, der auf dem Schlachtfeld überlebt hat, der daher fühlt und weis was ein Schüler braucht um zu überleben, gibt es weder Shu (Basis), Ha (Adaption der Basis) noch Ri (Transzendens aus der Basis).
Kennen sie gute Beispiele für die Übertragung dieser beiden Punkte in den heutigen Kontex, d.h. die Schlachtfelder unserer Zeit (Bildung, Arbeit, Beziehung, uvam.)?