DD243: Pre/Trans Fallacy – die Verwechslung von Gestern und Morgen (Juni 2015)

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DD243: Pre/Trans Fallacy – die Verwechslung von Gestern und Morgen (Juni 2015)

Genau! R.W. hat neulich bei meinen Erklärungen zu den Stufen Lehrling, Geselle und Meister (Shu-Ha-Ri) kommentiert, dass viele Leute die verschiedenen Level deshalb nicht verstehen, weil sie den höheren Level zu sehr mit dem jetzigen Level und dem gestrigen vergleichen. Dieses Phänomen ist von Ken Wilber als Pre/Trans Fallacy (siehe Wikipedia) beschrieben worden.

Bei Ken Wilber geht es um hohe Philosophie, hier nicht! Das Phänomen kann man auch im realen Leben ausmachen.

Das Internet kommt! Wir diskutieren Fluch und Segen des Internets. Die einen sehen die Sicherheit gefährdet, das Land versinkt im Chaos, viele Arbeitsplätze gehen verloren. Der Welt droht durch die neue Technologie ein empfindlicher Rückschritt in Verhältnisse, die wir schon überwunden glaubten. Die anderen glauben glühend an das Internet, das uns helfen wird, die grässlichen Fehlentwicklungen des jetzigen kapitalistischen Systems wieder zu korrigieren oder rückgängig zu machen. Das Web gibt uns wieder Hoffnung für unsere Ideale, die durch das jetzige System niedergemacht worden sind. Kurz: Die einen sehen in der Zukunft einen Rückschritt in das Chaos, die anderen erhoffen eine Rückkehr zu den alten Idealen. Beide verwechseln daher das Kommende mit dem Vergangenen. Das Kommende ist aber weder Rückschritt noch Rückkehr, sondern etwas ganz Neues!

Neue Beziehungsformen der Menschen beim Arbeiten 4.0 kommen auf uns zu! Wir reden über Fluch und Segen. Die einen fürchten undisziplinierte Zeitgenossen aus der Generation Y, die das Alte und besonders die Alten nicht respektieren und alle Regeln des Zusammenseins schleifen. Eine Regression in Anarchie droht! Die anderen haben schon lange von unseren rigiden und demütigenden Hierarchien die Nase voll, sie hoffen inständig auf eine Kurskorrektur – die Welt könnte zurückkehren zu Solidarität, Gemeinschaft, Gemeinsinn und Inklusion, zu Wertschätzung und Liebe. Kurz: Die einen sehen einen Rückschritt im Vergleich zum schon Erreichten, die anderen wollen eine Rückkehr zu etwas, was wir früher einmal hatten oder als das prinzipiell Beste empfanden.

Alle sollen ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten! Die einen sehen eine Anarchie kommen, wenn jeder einfach tun und lassen kann was er will. Schrecklich, da wollen bestimmt viele Leute nicht arbeiten! Zurück in den germanischen Busch? Die anderen machen das jetzige System für die Armut und das Prekäre verantwortlich und wollen diese Fehlentwicklungen durch eine Rückkehr zur Humanität rückgängig machen. Der Mensch soll wieder in den Mittelpunkt.

Und so weiter und so weiter. Anstatt in die Zukunft zu schauen, diskutieren sie Fluch oder Segen, worunter sie Rückschritt oder Rückkehr verstehen. Es geht aber um eine neue Welt der Zukunft, über die man schwer reden kann, weil eben die meisten Leute die Zukunft mit den Augen der Vergangenheit sehen: Die Idealisten hoffen, ihre ewigen Ideale im Neuen verwirklichen zu können. Die Realisten starren auf die möglichen Verschlechterungen und Unsicherheiten im Neuen. Niemand aber schaut das Neue nüchtern und real zuversichtlich an.

Hey, die Welt wird neu. Kommen Sie doch mit. Jammern Sie nicht, dass im Neuen die Ideale doch wieder recht fern sein werden. Und Sie anderen, haben Sie bitte keine Angst: Sie bekommen bestimmt wieder eine neue Heimat. Die Zukunft wird anders. Nicht besser oder schlechter – anders. Zu große Angst und zu großer Idealismus helfen nicht. Aufbrechen! Machen!

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18 Antworten

  1. wie bekommt man das zu einer breiteren Leserschaft?
    Aber wahrscheinlich würde es nichts nutzen, da man ja dann die bequeme, erprobte Argumentationskette aufgeben müsste…

    Ich glaube, wir brauchen doch mehr German Mut

  2. So sehr ich der These „Die Zukunft wird anders“ zustimme, ist die Antwort m.E. nicht ganz so einfach. Überspitzt ausgedrückt klingt das ein bischen wie „Blind in die Zukunft“, was sicher nicht so beabsichtigt ist.

    Einerseits braucht es Mut und die Bereitschaft das Neue zu wagen und die Bereitschaft, dabei auch Fehler zu machen. Denn nur so Lernen wir und kommen voran. Andererseits ist hat der Rückblick die wichtige Funktion, Fehler nicht zu wiederholen, denn das würde bedeuten nichts daraus gelernt zu haben und deshalb gerade nicht voranzukommen.

    So leisten sowohl die Mutigen als auch die Zögerlichen einen wichtigen Beitrag auf dem Weg in die Zukunft; die Kunst ist die richtige Balance zu finden.

    In der Veränderung fällt es grundsätzlich leichter, das zu erkennen, was bereits da ist und ggf. verloren gehen wird im Vergleich zu dem noch Unbekannten, das dafür gewonnen wird. Deshalb sind die Zögerlichen häufig nicht nur gefühlt in der Überzahl. Und deshalb finde ich den Aufruf – mit in die neue Welt zu kommen – richtig und wichtig.

  3. Das ist mir heute alles ein bisschen banal, das können Sie besser, Herr Dueck! Wer aufbricht und macht, sollte zumindest einen Plan haben. Wenn schon nicht die gesellschaftliche Utopie der früheren Tage, so doch eine „Vision“ seines Lebens von morgen. Und das ist keine Frage des Internets, sondern einer Ethik, die wir finden müssen, wollen wir uns in Zukunft nicht durch Konzerninteressen und Geheimdienste fremdbestimmen lassen. Wir müssen dringend als Gesellschaft bestimmen, wie die Grundlagen unseres zukünftigen Lebens aussehen sollen, dann können wir Einzelne wirklich aufbrechen und machen. Wenn wir uns da nicht ganz schnell substanzielle Gedanken machen, landen wir in der Abhängigkeit, der Beliebigkeit oder im Klein-Klein von Crowdfunding-Projekten.

    1. Ich erinnere doch hier so oft an Notwenigkeiten der Zukunft, Profeessionelle Intelligenz, Humboldt 4.0, neue Industrien fuer gute Arbeitsplaetze usw. Das Problem ist, dass zB Sie immer gleich noch die Menschen an sich verbessern wollen, was noch nie geglueckt ist. Dieser Versuch ist eben die Fallacy, ueber die ich schrieb. Zu viel Idealismus blockiert.

  4. Erinnert mich an den Roman „The Shockwave Rider“, der auch als Metapher dafür verstanden werden kann, in einer künftig unbekannten Welt zurechtzukommen — eben auf den bisher unbekannten Wellen zu reiten.

  5. Ja auf in die Zukunft ohne in Gegenwart und Vergangenheit hängen zu bleiben. Wir müssen aber das schon bestehende mitnehmen, sonst wird alles neue zu Illusion, zum aufgeblähten Ego. Mit Ken Wilber können wir das Boomeritis nennen. Also Vergangenheit ja, aber nicht als Bremse wirken lassen. Gegenwart ja, aber nicht als Bremse wirken lassen. So gehts dann auf zu Neuem (im Alten). Wir suchen nicht wir finden dann das wirklich Neue.

  6. Die technische Entwicklung verläuft immer schneller, die Entwicklung der menschlichen Psyche aber nicht. Die Gestaltung der Zukunft sollte immer den Menschen und seine immateriellen psychologischen Bedürfnisse in den Mittelpunkt rücken. Nur so ist zu erwarten, dass der technische Fortschritt auch wirklich den Menschen dient und nicht nur sich selbst. Wenn es in der Vergangenheit Strömungen gegeben hat, die genau diesen Ansatz als Ideal vertreten haben, dann macht es durchaus Sinn, dieses Ideal in Erinnerung zu rufen. Deshalb sind alte Ideale („… Solidarität, Gemeinschaft, Gemeinsinn und Inklusion, zu Wertschätzung und Liebe … „) nicht automatisch veraltet, schlecht und hinderlich. Ohne diese an der menschlichen Psyche orientierten Ideale fehlt dem Fortschritt die sinngebende Richtung.

  7. Das erinnert mich an die „hätte ich doch“ Menschen, die vergangene Entscheidungen mit ihrem heutigen Kentnisstand beurteilen. Nur, dass sie damals noch gar nicht wussten, wie die Sache heute aussieht und dies auch nicht wissen konnten. Entscheidungen in Ungewissheit. Das ist in der VWL eine große Sache.

  8. Danke für die Anregung! Da rattert es in meinem Kopf. Das ist, obwohl so einfach, ein spannender Gedanke. Das klingt fast so, als könnte die Menschheit neu anfangen. Mit neuen Denkmustern und mit der Chance ohne Hierarchie, ohne Krieg … jetzt geht es mit mir wieder durch. Wie gesagt, es rattert. Danke dafür!

  9. Sorry, aber diesem Gedanken kann ich leider ausnahmsweise mal nicht folgen.
    Wenn ich heute in die Vergangenheit schaue auf einen Punkt, in dem ich in die Zukunft geschaut habe und der jetzt mittlerweile auch schon in der Vergangenheit liegt, dann sehe ich einfach, dass sich Verschlechterungen und Verbesserungen ergeben haben. Ich kann diese Vergangenheit nicht einfach wegwischen und sagen „Toll! Die Zukunft! Da kommt was Neues! Lasst uns die Vergangenheit über Bord schmeißen und unbedarft voran schreiten!“. So zu agieren, das hieße für mich, aus der Vergangenheit nicht zu lernen. Und wie genau schaut eine „real zuversichtliche Sichtweise“ aus? Frau Birkenbihl hat einmal den folgenden Vergleich gemacht: „Wenn die Wahrheit zwei Meter lang ist, sieht jeder von uns nur wenige Zentimeter davon – und die müssen sich nicht überlappen.“ (aus der Erinnerung zitiert). Und wenn die Wahrheit – also das Jetzt – schon so ungleich bewertet werden kann, wie soll das erst für die Zukunft ausschauen?
    Die Zukunft kommt immer – basierend auf dem, was wir jetzt tun.
    Aber vielleicht habe ich den DD243 auch einfach nicht verstanden, weil ich realistische Idealistin bin 😉

  10. Jap. Wir müssen uns davon lösen, die Zukunft mit den Augen der Vergangenheit sehen zu wollen. Was auch immer dabei herauskommt. Machen.

  11. Ein Worst-Case für Vorhersagen und deren Akzeptanz ist der „Reversal of Defaults“ – die Drehung der Bedingungen um 180 Grad. Dies ist gerade durch IT immer wieder der Fall, etwa im Original von RL Riverso:
    „reversal of defaults“: what was once private is now public; what once was hard to copy is now trivial to duplicate; what was once easily forgotten is now stored forever.“
    Ein amüsanter Reversal ist die öfffentliche Haltung zu Autos und Computer: „Ein Computer wird niemals ein Auto fahren “ (habe ich so oft gehört!)“ und heute „der Mensch wird nicht mehr das Auto fahren dürfen, es ist viel sicherer mit Computern“.

    Wer Reverals um 180 Grad zu früh vorhersagt, gilt als hoffnungsloser Optimist und Futurologe.

  12. „… anstatt dies, das…“ oder „wir müssen …“ – wieso nicht möglichst „sowohl… als auch…“? (Zusammen-)Leben ist nicht binär. Und zum Beitrag von Dieter Past weise ich darauf hin, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft nicht viel mit Evolution gemäss Darwin zu tun hat :-).

  13. Noch eine Ergänzung zur Täuschung in der Vergangenheit („Post-Trans-Fallacy“): Das allgemeine Geschichtsbild in heutiger Sicht ist voller Fehler und Fehleinschätzungen, dies gilt für Galileo Galilei bis Charles Babbage und Ada Lovelace. Professionelle Historiker betten die Aussagen in den richtigen zeitlichen Kontext ein; ein wunderbarer Blog hierzu ist der RENAISSANCE MATHEMATICUS

    https://thonyc.wordpress.com/

    Ein sensitives Beispiel ist die „Deification“ von Ada Lovelace … (siehe dort)

    Für die Zukunft korrigiert erst der Strom der Entwicklung die Fehleinschätzungen … Leider werden dann die alten Fehlvorhersagen vergessen („Ein Computer wird nie …“)

  14. Ich hielt Anarchie immer für den erstrebenswertesten Zustand einer Gesellschaft. Die Utopie meiner Wahl, wenn man so will, die wir erst erreichen können, sobald wir den Star-Trek-Sozialismus überwunden haben 😉

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