DD252: Wer noch klagen kann, leidet nicht genug (Oktober 2015)

Twitter
Facebook
LinkedIn
XING

DD252: Wer noch klagen kann, leidet nicht genug (Oktober 2015)

Stress muss man heute haben! Sogar aus beamtenähnlichen Beschäftigungsverhältnissen höre ich, dass laute Gespräche auf dem Flur mit Lachern dazwischen als „Stehlen“ von Arbeitszeit empfunden werden. Da zuckt ein Abteilungsleiter beim Mailen im Einzelbüro verärgert zusammen – na, nicht wegen der ihm geraubten Zeit, mehr wegen der guten Laune, die ihm irgendwie Faulheit oder allgemein eine schlechte Attitüde signalisiert. Er selbst – der Boss – rät ja ununterbrochen den Stressjammerern, dass sie doch bitte allen Stress positiv sehen mögen, weil er den Blick auf neue Chancen eröffne. Aber das ungezwungene Lachen? Am besten mit Geburtstagssekt in der Hand? Das ist allzu prositiv.

Es muss ja gar nicht stimmen, dass Vorgesetzte so grimmig sind, aber schon das Gerücht, dass sie es sein könnten, wenn sie beim Sekt nicht ostentativ mittrinken, drückt auf die Stimmung. Deshalb bemühen sich die echten und Möchtegern-Hochleister und alle, die aus anderen Gründen besonders viel auf sich halten, nicht für Faulenzer gehalten zu werden. Sie arbeiten in der Mittagspause einsam auf der Bürofläche weiter – immer weniger einsam. Ein Brötchen muss reichen, die Mails müssen raus!

Sie erzählen am Morgen nicht mehr wie einst, wie sie sich am Vorabend vergnügten. „Oh, ich habe gestern Abend noch an meinem Konzept weitergearbeitet, ich brauche dazu einmal zehn Stunden ungestörte Ruhe am Stück.“ – „Schenkst du die Überstunden der Firma?“ – „Ich und Überstunden zählen? Hör mal, es geht doch darum, dass wir alle zusammen Erfolg haben! Da leiste ich, was nötig ist, du nicht?“

Die Leistungsträger haben die Macht! Sie verteilen als Projektleiter zusammen mit den Managern die Arbeit. Wie sollten sie denn die Arbeit verteilen? Theoretisch? Denkt da mal jemand drüber nach?

Im Arbeitsleben ist es meistens so, dass die Chefs und Leistungsträger händeringend von den anderen persönlich gebraucht werden. Sie sind dann aber meistens nicht anwesend. Sie können leider jetzt nicht entscheiden, Projekte müssen dummerweise warten. Ich kenne Unis, wo man Monate braucht, um Zeugnisse zu unterschreiben, ja, auch mal ein ganzes Jahr, um eine wieder einmal nicht gelesene Doktorarbeit schnell mal zu begutachten. Ich kenne Doktoranden, die über Jahre auf unter einen Tag Gesamtbetreuungszeit kommen. Chefs sollten Feedback geben und mit Mitarbeitern auf vertrautem Fuß stehen, sie coachen und entwickeln. Sie sind aber nicht da. Sie kommen nur mit besorgter Miene, um Erfolgszahlen einzusammeln („review“). Sie haben Zeit zu schimpfen, wenn etwas nicht stimmt. Schimpfen motiviert zu Extrameilen und Stress, der positiv verwendet werden soll. „Chef, Sie waren aber nicht da!“ – „Ich bin in wichtigen Meetings gewesen.“

Theoretisch sind die Besten dazu da, neben der eigenen Leistung die anderen mitzunehmen, auszubilden, zu mentoren und zu fördern. Oft kann ein Meister mit einem Rat oder einem Telefonat einem Mitarbeiter Wochen an Arbeit ersparen: „Ich ruf diesen Menschen schnell an, er entscheidet dann gleich am Handy.“ Leistungsträger sollten in diesem Sinne eine offene Tür, ein offenes Ohr und einen Sinn für das Ganze haben. Sie sollten eher nicht richtig dauerarbeiten. Schauen Sie den KFZ-Meister an. Er riecht an den reinkommenden Autos, was an ihnen nicht stimmt. Aber er repariert nicht selbst. Wenn ein Kunde erregt ist, redet er mit ihm. Wenn ein Geselle etwas nicht hinbekommt, zeigt er es ihm. Der Meister hält die Werkstatt am Laufen. Der Meister ist nicht in Meetings. Er ist da.

In der überwiegenden Praxis aber ist der Professor, der Manager, der Projektleiter oder der Guru nicht da. Forscht der Professor? Das wäre ja noch gut, aber er forscht nicht! Er hat keine Zeit, über genialen Ideen zu brüten, er sitzt in Meetings oder feilt an Drittmittelanträgen für Leute, die nicht entfernt ihr Potential entfalten, weil sie keiner richtig betreut. Alle die Chefs sagen, sie würden bis zum Erbrechen arbeiten, aber nie im eigentlichen Sinne. Sie tun unendlich viel, aber nicht, was sie selbst eigentlich nach eigener Meinung zu tun hätten. Sie leiden still und scheinen irgendwie zu hoffen, dass sie einstals Zeit für das Eigentliche hätten. Ja, der Professor sollte seine Superideen an die Assistenten zum Ausarbeiten verteilen und alles betreuen. Ja, der Chef sollte entscheiden, helfen und coachen. Ja, die Leistungsträger sollten sich klonen helfen…

Die Hochleister verschwinden in Verwaltungsbürokratie und Interessenkonflikten. Sie arbeiten ohne Unterlass irgendwie nach „oben“ hin, zu ihren Chefs, nicht mehr nach „unten“ hin, für ihre Schutzbefohlenen. Der Chef für den Chefchef, der für den Präsidenten oder Vice President, der für den Boss, der für die Eigner. Der Blick ist nicht mehr auf der Arbeit, sondern auf der Erfolgsdemonstration, die wie selbstverständlich von unten erarbeitet und geliefert werden muss. Das Erfolgsdemonstrieren verschlingt alle Zeit, wie ein Schwarzes Loch alle Materie.

Und alle leiden sie vor sich hin. „Chef, ich leide.“ – „Das will ich schwer hoffen, das Quartal ist schwierig.“ – „Chef, ich brenne aus.“ – „Na, jetzt übertreiben Sie aber ein bisschen. Kennen Sie die Floskel, dass man das Klagen erlernen soll, ohne zu leiden?“ – „Chef, es ist wirklich zu viel.“ – „Sehen Sie auf mich: Ich leide, ohne zu klagen. Nehmen Sie sich das zum Vorbild.“ – „Chef – Sie hören nicht zu! Ich brülle Sie jetzt ganz laut an: ES IST ZU VIEL!“ – „Wer noch laut schreien kann, hat noch Energie. Wer noch klagen kann, leidet nicht genug.“

Arbeiten verlangt zu oft, die ökonomische Unbegreiflichkeit zu ertragen.

Twitter
Facebook
LinkedIn
XING

10 Antworten

  1. Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Wobei ich einschränken möchte, dass es auch noch Vorgesetzte gibt, die neben ihren vielen Erfolgsdeminstrationen auch noch für ihre Mitarbeiter da sind: neben ihnen stehen, wenn es fachlich etwas zu diskutieren gibt und hinter ihnen bei Druck von allen Seiten.
    Ich hatte einige davon – Männer wie Frauen – und versuche mir an diesen ein Beispiel zu nehmen. Doch manchmal fühle ich mich faul beim Dassin für meine Leute. Faul zwischen den ganzen Nachwuchsführubgskräften, die – mit Friedhofsmine und nicht altersgerechter Ermsthaftigkeit – Leistung tragen, statt mit Menschen im Dialog zu sein!

    Herzlichen Dank für Ihren ermutigenden Artikel!

  2. Lerne leiden, ohne zu klagen.
    Der Ausspruch wird dem deutschen Kaiser Friedrich III. (1831 bis 1888) zugeschrieben. Er soll seinem Sohn diese Lehre mitgegeben haben: »Lerne leiden, ohne zu klagen, das ist das Einzige, was ich dich lehren kann.« Das Zitat wird oft gebraucht, um auszudrücken, dass jemand sein Leid tapfer erträgt, ohne großes Aufheben davon zu machen. In der scherzhaften Abwandlung »Lerne klagen, ohne zu leiden« (also jammern) charakterisiert es einen hypochondrisch veranlagten Menschen.

    Das Jammern ist die beliebteste Form der Gewissenshygiene.
    Dazu lassen Sie Ihre Schultern möglichst nach ganz unten fallen. Sacken Sie dann mit dem ganzen Oberkörper in sich zusammen. Legen Sie dann bitte noch den Kopf leicht auf die Seite, denn alle anderen sollen ja schon von weitem erkennen, dass wir es besonders schwer haben.
    Vom Gesichtsausdruck orientieren wir uns bei den Mundwinkeln ebenfalls nach ganz unten.
    Diese symbolische Grundhaltung ist immens wichtig, um das tatsächliche Aufhalsen von Belastungen frühzeitig abwehren zu können.
    Lassen Sie ihren Befindlichkeiten ruhig freien Lauf: ‚Oh Gott, oh Gott, oh Gott‘ oder ‚Ne, ne, ne, ne‘ oder halb vernuschelte Sätze: ‚Hach, wer soll sich das noch leisten können, da kommt doch keiner mehr mit, wo soll das noch hinführen.‘

  3. .. oder diejenigen, die erst „wie würden Sie das machen“ fragen, um dann die Lösung im nächsten Meeting als „eigene Schöpfung“ zu verkaufen… tss…

  4. Um mal einen Kunden zu Zitieren: die Abwesenheit von Strafe ist Lob genug.

    Diese Art von Hochleistungskultur ist heut zu Tage in vielen Firmen. Insbesondere bei jungen, amerikanischen Firmen, ist immer öfters diese Art von „Elon Musk work ethic“ angesagt.

  5. Gerade mein letzter Chef hat mich sehr unterstützt, es gibt sie noch, aber sie werden immer weniger. Jeder hat Angst um seinen Job, also bloss kein Wissen weitergeben, man könnte ja ersetzt/entlassen werden. Mein Anspruch 8h in normalem Tempo, nicht ständig gehetzt und mit Mittagspause zu arbeiten, scheint heutzutage völlig abnorm. Wenn man mal um 16h geht: Was schon Feierabend? Man ist nur noch im Rechfertigungsmodus und das auch auf der Chefetage. Kein Wunder werden immer mehr Menschen krank.

  6. Toller Artikel (wie so oft)! Vielen Dank dafür.

    Und schöne Wortschöpfungen: prositiv und einstals!

    Am gelungensten fand ich: Der Meister ist nicht in Meetings. Er ist einfach da.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert