„Vorfreude ist die größte Freude!“, da sind sich viele Psychologen und natürlich auch der Volksmund sicher. Vorfreude ist die erwartungsfrohe Stimmung, die uns das, wofür wir uns vorfreuen, tatkräftig erstreben lässt. Christus adveniat! Vier Wochen Vorfreude!
Wenn Sie dem eigenen Gefühl nicht trauen und lieber auf eine seriöse Neurostimme hören – dann nehmen Sie zur Kenntnis: Wenn wir etwas freudig erwarten, schießt uns Dopamin ein. Dieser Stoff aktiviert dazu, der Vorfreude mit Tatendrang zu folgen. Es geht bei dem Dopamin NICHT um die Lust am Ende, wenn das Ziel erreicht ist! Das könnte dann ein Endorphinrausch sein. Dopamin macht nur für das Ziel der Sehnsucht aktiv.
Viele shoppen und shoppen, freuen sich über die Beute und ziehen die Klamotten dann nicht an. Viele jagen und jagen, schießen dabei viele Böcke und sind vielleicht sogar Vegetarier. Der Weg ist das Ziel, sagen so viele; beim Jagen und Shoppen ist das zumindest sehr oft so. Manche brauchen eine Sehnsucht, hecheln einem gewünschten Traumpartner hinterher, trainieren für eine Olympiade, interessieren sich brennend für ein Wissenschaftsfeld oder für die Feinheiten verschiedener Whisky-Finishes – es ist Vorfreude unter Dopamin. Das Ergebnis bedeutet vergleichsweise nichts.
Ich habe nach meiner Promotion und meiner Habilitation jeweils längere Leerphasen gehabt – keine Ziele mehr, die Vorfreude garantiert hätten. Es war wie Erschöpfung, es ist aber eigentlich Vorfreudelosigkeit, das erlebe ich nach jedem letzten Punkt hinter einem neuen Buch.
Viele werdende Mütter vorfreuen sich irre („Baby adveniat“) und bekommen eine Kindsbettdepression, wenn es nun so daliegt, etwas verschrumpelt und schwach gelbsüchtig… Wird es durchschlafen und der erwartete wundervolle Mensch werden? Das Ergebnis ist natürlich auch wunderschön – irgendwie – aber es ist kein Vergleich mit der Vorfreude. Die kommt dann aber meist gleich wieder zurück: „Ich ziehe das Baby auf, es entwickelt sich, schau nur…“
Startups bieten Vorfreude! Neue Technologien winken oder neue Ideen, wie die Welt zu verbessern wäre. Da kribbelt die Vorfreude in uns – los, wir tun was! Viele Künstler träumen von Ruhm und vom Oscar, aber wenn sie ihn bekommen, dann sind sie noch einen Tag freudealkoholstofftrunken – und jetzt? Man sagt, dass es so wundervoll wäre, den Weg bis ganz nach oben zu schaffen, dass es aber unvergleichlich viel mehr gefühlte Energieleistung verlangen würde, oben zu bleiben. Nach oben kommen ist Vorfreude, oben bleiben eher Pflicht verknüpft mit der Angst des Abstiegs.
Die Christen/Juden erwarteten den Retter Jahrhunderte hindurch. Die Vorfreude hielt „tausend Jahre“, aber dann kam er wirklich und wollte, dass wir uns anständig benähmen… Viele Liebende lieben sich getrennt stärker, wenn sie allabendlich telefonieren oder chatten. Viele Ehepaare streiten sich gleich nach der Hochzeit am stärksten. Ich meine: Die Vorfreude ist echter als das Echte.
Die Vorfreude hat viele Erscheinungsformen und Bezeichnungen: Vision, Traum, Hoffnung, Interesse, Leidenschaft, Wissenwollen, Sehnsucht. Vorfreude macht stark!
Wenn Vorfreude so stark macht – warum geben wir uns ihr nicht hin? Warum haben wir eher Vorangst, also das Gefühl, dass wir den Erwartungen nicht genügen werden? Warum gehen wir nicht den vorfreudigen Weg des Lebens? Warum entwickeln wir uns nicht lebenslang, warum müssen wir aus Politikern auswählen, die uns per Versprechungen die Vorfreude nur vorlügen? Welche Vorfreude bieten Chefs, die jedes Jahr zehn Prozent wachsen wollen, egal wie?
Man redet uns unsinnig ein, nur ein gutes Ergebnis könne freuen. Das glauben wir dann und sind immer nur Einzelmomente im Leben glücklich, wenn überhaupt. Hilfe – alles Zweckerziehung!
Das Leben sei immerwährend Vorfreude.
6 Antworten
…und ich hab im März 2017 meinen Urlaub für November 2018 angezahlt… seit dem freue ich mich und freu‘ mich auf die Freude, die ich noch weitere 11 Monate erleben werde… Urlaub heute buchen und sich bis dahin freuen – fast besser, wie der Urlaub selbst!
Dankeschön! Genau im richtigen Moment. Da gehört nun mal eine gehörige Portion Eigensinn dazu, den die meisten nicht haben, weil der nur auf den Deckel gibt.
Die meisten suchen Status und nicht Freude!
Ich vorfreue mich auf Ihre Beiträge und suche getrieben eben so interessanten Input!
Das Hirn ist ein wunderbarer Ort zum herumtreiben.
Viel Vorfreude, erbauliches Zusammensein, einen Punkt und machen Sie bitte weiter!
Wie wahr! Ich beobachte das bei mir seit langem im Zusammenhang mit Proben und Aufführungen (Musik, Theater). Mir machen Proben sogar viel mehr Spaß als Aufführungen, und ich wundere (bzw. ärgere) mich immer wieder, wenn ich dann in den Dankesreden höre, dass die Mitwirkenden hierfür „ihre Freizeit geopfert haben“. Wofür ist denn Freizeit da – nur zum Surfen, Fernsehen, untätig Rumhängen? Das ist aktive Vorfreude! Oder, mit Goethe:
Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Freude ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Aber auch Fröhlichkeit, Lachen helfen unser Leben schön zu gestalten. Das Tolle ist, eigentlich kostet es kein Geld. M.S. Freiburg.
Wenn Vorfreude so stark macht – warum geben wir uns ihr nicht hin? Warum haben wir eher Vorangst, also das Gefühl, dass wir den Erwartungen nicht genügen werden?
Ganz holzschnittartig könnte man sagen Vorfreude intrinsisch, Vorangst extrinsisch. Da ließe sich schon wieder die „Hose für Lohengrin“ hervorholen (Nachzulesen in dem Buch „Wild Duck“). Gäbe es nicht die (extrinsische) Deadline, würde die Suche nach der Hose sehr lange Vorfreude hervorrufen. Durch die Einführung der Deadline wird aber Vorangst daraus, keine adäquate Hose zu finden.
Weihnachten ist beispielsweise eine extrinsische Deadline für all jene, die erst in Sichtweite derselben mit ihren „Geschenküberlegungen“ beginnen. Ein Ausweg daraus ergibt sich möglicherweise dadurch, daß man permanent, also ohne „Deadline“ diese Überlegungen macht. Sollte man dann trotz der Vorfreude (resultierend aus der fehlenden Deadline) einmal falsch liegen, kann man das (bei Gegenständen) über „ebay“ wieder kompensieren, indem man die „Falschlage“ dort loswerden kann; möglicherweise verbunden mit Freude! Auf jeden Fall hat man sich durch diese alternative Vorgehensweise viel Vorfreude und ein Depot an „Ergebnisobjekten“, jedenfalls für einen Teilbereich des beschriebenen Komplexes gesichert.
Danke. Schön geschrieben. Das kann ich meinen Jugendlichen Kindern Weihnachten vorlesen :-).
Allen eine vor-freudige Zeit.