DD331: An ihrem Selbstlob erkennt man sie (November 2018)

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Kaum eine Woche vergeht, dass nicht jemand mir gegenüber seine Mathematik-Unkenntnisse tränenlos beweint. „In Mathe war ich niemals gut.“ Diese Leute sagen mir das wohl, weil ich Mathematiker bin, und da gehört so ein fröhliches „Understatement“ zum Small Talk. So wie wenn ich selbst bedauernd-entschuldigend auf meine grauen Haare zeige. Ich kann eben auch nicht alles bieten… „Mathe kann ich nicht“, „Ich habe kein Internet“ oder „Ich will auch bewusst nicht alles können“ wird fast wie Eigenlob vorgetragen.

Quelle: Adobe Stock Photo

Sie loben sich, aber sie tadeln sich. Merken die das? Es klingt so:

  • „Vielleicht sehe ich das für Sie übertrieben genau, aber ich bin eben sehr sorgfältig und prüfe jedes Detail und auch, ob die Prozesse alle eingehalten sind. Die sind mir heilig.“
  • „Ich habe vier Jahre lang mit guter Politik wahnsinnig viel angeschoben. Leider hatte ich keine Zeit, meine Verdienste richtig darzustellen. Ich habe schließlich im Wahlkampf posaunt, so laut ich konnte. Man versteht meine Leistungen nicht. Dummes Volk. Es hat mich nicht verdient.“
  • „Ich frage eben immer, ob die Ausgabe sein muss. Ja, ich drehe jeden Cent um. Ich bin erschüttert über die Verschwendung, die ich überall sehe. Sie bestellen sich gerade einen Nachtisch für gutes Geld und klagen regelmäßig hinterher, übersatt zu sein. Und jetzt kurieren Sie den Fehler mit der Bestellung eines Digestifs. Ich verstehe sie nicht.“
  • „Ich bin eben sehr streng, was das Einhalten von Sitten angeht. Natürlich möchte auch ich einmal die Moral für mich selbst beiseitelassen – aber ich gebe solchen Versuchungen nie nach, ich habe mich im Griff, auch wenn es mir innerlich schlecht geht. Ich gewöhne mich daran.“
  • „Ich möchte nicht auffallen, jedenfalls nicht negativ. Da ist es sicher eine gute Strategie, am besten gar nicht aufzufallen. Daher mache ich mich unsichtbar! Aber es ärgert mich ständig, dass ich nie positiv auffalle, ich fühle mich von den anderen nicht wertgeschätzt.“
  • „Ich hebe eben alles auf – das ist gut so. Neulich ging der Strom nicht, da habe ich unsere alte Handkaffeemühle auf dem Boden gesucht. Ha, die haben wir irgendwo noch. Danach musste ich für das Heißwasser noch das Fondue finden. Mittendrin kam der Strom wieder, aber im Prinzip hätte ich es hinbekommen, ich habe sogar noch die Originalverpackung der Mühle da.“
  • „Ich lasse mich nicht dauernd quälen, ist das etwa nicht normal? Ich werde innerlich fuchsteufelswild, wenn zu hohe Erwartungen an mich in der Luft liegen. Ich soll so schnell arbeiten wie alle, sonst glotzen sie mich in bestimmter Weise an, ganz scheel. Ich will das nicht. Ich wehre mich, oh ja, das kann ich. Ich arbeite, wie ich arbeite, und zwar gut. Ich arbeite ganz stur penibel vor mich hin, so wie es sein muss.“
  • „Täglich Beleidigungen und Zumutungen von allen Seiten – jeder gegen jeden. Da muss ich mich doch aufregen. Die anderen nehmen mich nicht ernst, sie sagen, ich würde mich über Kleinigkeiten entrüsten und alles dramatisieren! Ha, Kleinigkeiten! Man muss den Anfängen wehren, und zwar scharf! Es gibt inzwischen so viele Probleme, dass ich fast gegen alles opponieren muss. Ich bin der Fels.“
  • „Ich fühle mich als einziger für alle verantwortlich. Ich schlage andauernd gemeinsame Veranstaltungen vor und lege jedem ein Stück Schokolade zum Nikolaus auf den Schreibtisch. Ich singe manchmal zu Mittag ein Lied in der Kantine, um den Stress der anderen abzubauen. Die aber sind so von ihrer Arbeit frustriert, dass sie gar nicht so recht wahrnehmen, was ich alles so leiste. Da ist ein Ist-ja-schon-gut das höchste, was sie sich rauspressen. Ich muss meine Anstrengungen verstärken, damit sie endlich einmal dankbar sind. Zuhause dasselbe: Ich lüfte die Zimmer und befülle die Spülmaschine absolut optimal, das macht mir keiner nach. Danke? Sagt niemand. Als ob ich der einzige gute Mensch auf der Welt bin. Da fühle ich mich eigentlich überlegen, aber so allein wie ich bin, ist es nicht gut.“
  • „Ich muss als Chef für hohe Leistung sorgen. Das geht bekanntlich nur durch Druck, und der muss stärker sein als der innere Schweinehund der Mitarbeiter. Das ist meine Aufgabe. Punkt. Na gut, ich komme dann manchmal etwas grob rüber und werde gehasst. Das ist ungerecht, aber damit muss ein Chef wohl leben.“
  • „Ich hasse das Geschwätz in Meetings. Dummes Zeug, Anmaßung und Anbiederung. Sachkompetenz?? Null!! Auf mich hört niemand. Dabei weiß ich alles. Ich habe beschlossen, auf immer zu schweigen. Es hat keinen Zweck. Ich stehe zu weit über ihnen.“
  • „Ich kann blitzschnell entscheiden. Dadurch bringe ich Bewegung in die Dinge. Natürlich muss ich hinnehmen, wenn andere mich grob und brutal finden. Sie merken nicht, dass es gut für das Ganze ist. Man muss nicht alles auf die Goldwaage legen, das ist zu langsam. Besser eine schlechte Entscheidung im Moment als gar keine.“
  • „Triumphe muss man feiern, auch die kleinen, das feuert an! Ich habe eine Trompete im Büro, in die blase ich, wenn mir etwas geglückt ist. Ja, zum Beispiel, wenn ein Kunde von selbst angerufen hat oder wenn sich einer für die Zusendung von Prospekten per Mail bedankt. Dann läuft das Geschäft! Da mache ich Stimmung! Das Leben ist schön, ich klopfe allen auf die Schulter, damit sie aufhören, sich wie Miesepeter zu benehmen. Sie müssen sich konzentrieren, sagen sie. Der Vertrieb aber lebt vom Feuer und von Dramatik!“
  • „Ich schufte wie wahnsinnig, aber ich mache doch auch Fehler. Fehler macht jeder, aber ich schäme mich als einziger und schufte noch viel mehr – jede Menge Überstunden. Ich finde es schlimm, wenn am Ende doch nur meine Fehler bestraft werden. Meine Anstrengungen werden böswillig ignoriert. Sie wollen mir nichts gönnen, da reiten sie auf mir herum. Aber am Ende zeige ich es ihnen, ganz klar. Ich schufte, ich bin nicht so faul wie die anderen.“
  • „Ich bin am besten gekleidet, frisiert und trainiert. Ich leiste sehr viel, was die anderen zu nerven scheint. Sie mögen mich nicht, das spüre ich. Gelber Neid. Dummes Volk. Auch meine Chefs, auch dumm. Es wird Zeit, dass ich aufsteige, damit der Laden endlich mal auf Zack kommt.“
  • „Ich vertrage mich immer. Von mir geht kein Konflikt aus, da scheine ich der einzige zu sein. Ich bin zugleich sehr gutmütig und gebe immer nach. Harmonie ist wichtig, dafür sorge ich. Die anderen überziehen es aber ganz schön mit dem Streiten. Ich finde, ich muss viel zu oft nachgeben. Meine Ethik wird ausgenutzt, ganz klar. Fast alle Menschen sind böse. Das macht mich traurig.“

Versuchen Sie einmal, einer dieser Äußerungen etwas entgegenzusetzen: „Das sehe ich nicht so.“ Dann werden Sie mindestens mit Blicken getötet. Sie sind unten durch. Diese Äußerungen sind eigentlich kein verdrehtes Selbstlob, sondern die Arbeit am Persönlichkeitspanzer, hinter dem die Seele kein Licht sehen soll. An diesem Lob-Tadel-Gemisch prallt jede Kritik ab. Wir sind dann mit Menschen befasst, die sich nie ändern können und werden. Diese Menschen leiden, um nicht noch mehr leiden zu müssen. Wir auch.

 

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9 Antworten

  1. Dieser Beitrag heute hat mich wirklich verblüfft. Ich hatte zu keiner der Äußerungen ein inneres Bild (= einen Menschen, dem ich den Satz hätte zuschreiben können) Sie kennen seltsame Leute.

    Egal, ich freue mich auf Ihren nächsten Blog.

  2. Hab da immer nur eine Frage: „Was willst Du?“
    Natürlich muss man die wie die Kinderfrage „Warum?“ mehrmals hintereinander stellen.

    Der einfach schwierige Trick ist, die/den Befragte/n in einer Stimmung zu erwischen, in der sie/er sich selber ehrlich fragt.

  3. Mir fällt dazu der Spruch eines Freundes ein, der sinngemäß meinte, das wir „alle“ mit zunehmenden Alter „komischer“, „schräger“ oder eigenartiger werden. Und das war liebevoll gemeint, für mich ist das verständlich.

    Offen zu bleiben wird schwerer, hält aber jung. Trotzdem drehen wir alle doch irgendwie unseren eigenen „Film“.

    Das Problem fängt immer dann an, wenn man Schuld (indirekt) an andere verteilt. Cleverer ist eigene Fehler als Teil des Lebens zu akzeptieren und, wenn einmal erkannt mit Zuversicht nicht zu wiederholen. Zu sich zu stehen.

    Anderen Ihre Fehler wiederholt vor Augen zu führen, wer macht das, wenn er nicht explizit darum gebeten wird…? Ich verweise hier gerne an Schulz von Thun und seine Erklärungen zum Wertequadrat. Für den Verschwender ist der Sparsame „immer“ ein Geizhals und für den Geizhals ist der Großzügige schon direkt ein Verschwender. Wer ist bei solchen Konstellationen das wirkliche Problem und wer fängt dabeimeist als erster an sich zu rechtfertigen? Ja klar, der Extremere von beiden. Nun gut, hauptsache er steht dazu, dann muss er sich aber wohl auch meist kaum rechtfertigen.

    Vom Scheitern erzählen: FuckUp Night… ich hätte auch mindestens ein, zwei große Geschichten zu erzählen und einige Kleine.

    Jaja, der Vertrieb…

    Sicherlich steckt die Leidenschaft eines Menschen mehr an als das Fishing for Compliments! Evtl. ist ersteres aber auch mal nur egoman und letzteres ein Einstieg in ein Gespräch, die Suche nach Zuspruch, den jeder mal braucht. Keep the balance right!

    Narzissten der weiblichen Variante entschuldigen sich selbst, die männlichen gar nicht, oder war es doch umgekehrt? Es ist beides am Ende das Gleiche. Wer bittet heute noch wirklich um Entschuldigung? Wer weiss überhaupt noch wie das geht?

    Es gibt einen großen Unterschied zwischen der ehrlichen Frage nach einer Entschuldigung und einer Rechtfertigung. Oftmals habe ich das Gefühl es gibt zu viele Rechtfertigungen. Zu wenig ehrlich gemeinte Bitten um Entschuldigung oder eben das „Dazu stehe ich“.

  4. Der Mathematiker hat letztlich das Talent die verkehrte Logik seines Gesprächspartner zu erkennen, die der Psychologe dann raffiniert heilen kann bzw. aufgrund von statistischen Tabellen und Erhebungen als ganz normal klassifiziert.

    1. Hahaha.

      Jo!

      Die Grenze zwischen der Mitte (dem allgemein Akzeptiertem) und dem Extremen (also als pathologisch zu bezeichnenden) ist fließend. Es gibt den Graubereich, zwischen (z.B.) Sparsamkeit (fast immer ok) und Geiz (auf Dauer doch eher echt schädlich) hier und Großzügigkeit (fast immer ok) und Verschwendung (auf Dauer doch eher echt schädlich) dort.

      Gerade bei inneren Haltungen, die gepaart mit Schauspiel, Anpassungsdrang/-Zwand und Selbstbetrug sicherlich nur schwer (oder gar nicht) ad hoc klar zu erkennen sind, hilft die Mathematik nicht mehr wirklich, malad von gesund sauber zu trennen. Und der Freiheitsbegriff verbietet quasi innere Haltungen zu verurteilen, solange damit nicht (in Folge durch Sprache und Tun) unmittelbar Gesetze gebrochen werden. Vor der Illegalität kommt aber auch die Illegitimität, BSP: Donlad Trump oder Erdogan (die ja auch nicht in Deutschland leben und somit anderen Gesetzen unterliegen und „leicht“ andere Moralvorstellungen pflegen dürfen ohne in ihren Kulturkreisen direkt mal schräg angeguckt zu werden).

      Nun ja, jeder mache sich sein eigenes Bild! Aber er gleiche es auch bitte mit seinen Mitmenschen (und anderen Kulturkreisen und Werten) ab sonst wird er wohl irgendwie von den Mitmenschen abgeglichen werden. So macht das die Natur (des Menschen) und manchmal kommt es einem evtl. auch mal so so vor, als wäre man im falschen „Film“.

      Z.B.: Selbst Sparsame und Großzügige kommen ___langfristig___ auch nur miteinander klar, wenn sie beide über ihren eigenen Tellerrand hinaus gucken können und die ganze Skala sehen können (auch Geiz und Verschwendung)!!! Dann bilden beide evtl. sogar ein starkes Team und können sich gegenseitig situativ leicht korrigieren, sonst eben nicht!

      Mathematik alleine als Kompass hilft da nicht, man braucht eben auch die Landkarte (der Empathie) um sich – bewusst – auf den Weg zu machen, eine Entscheidung wahrscheinlich ohne spätere Reue treffen zu können. Fehlt die Landkarte hilft vielleicht der Psychotherapeut – in manchen Kulturkreisen ist es schick einen als ständigen Begleiter zu haben. Ein enger Freund tut es aber meist auch schon. Aber die Landkarte hat man zu einem großen Teil aus den frühen Jahren mitbekommen. Reichlich schwer und auch angst-beladen die neu zu zeichnen.

      Und wenn man dazu steht, dann ist das als selbstbewusst zu bezeichnen, dann fällt Selbstlob und Rechtfertigung im Normalfall eher aus, denn ich vertrage mich dann viel lieber, egal wie minimal dieser Vertrag aussehen würde: Er bezeichnet etwas Konstruktives! Mehr als das erwarte ich nicht von meiner Umwelt und doch habe ich auch all die Wünsche und Sorgen, die ein Mensch eben so haben kann über „Verträge“ hinaus. Ich lasse sie zu. Denn nicht alles lässt sich – schon allein aus reinen Zeitgründen heraus – vorab vertragen…

      Wir starten hier immer wieder den Versuch, nicht?

      Dann brauchen wir erst mal auch keinen Psychologen und auch keinen Richter, sondern bleiben „reiche“ und selbstständige Mathematiker 😉

  5. Nach meiner Auffassung sind das diejenigen, die sich gerne zu sog. „Jammerzirkeln“ In Treppenhäusern, Kaffeeküchen oder anderen Treffpunkten zusammenschließen.
    Natürlich sind nicht alle an diesen Örtlichkeiten gleich den „Jammerzirkeln“ zuzuordnen!!
    In den Jammerzirkeln wird auch noch über viel mehr diskutiert, was dem Anspruch „gut, dass wir darüber mal geredet haben“ gerecht wird.
    Es ist allerdings recht schwierig solche Mitarbeiter(innen) oder Kolleg(inn)en aus ihren „Wohlfülzonen“ herauszulotsen.

  6. An diesen Punkten kann man gut mit Gewaltfreier Kommunikation arbeiten. Gegenargumentieren muss man nicht. Viel eher heraus finden, um welche Bedürfnisse sich das Gesagte dreht.
    Persönlichkeitspanzer bauen Menschen auf, die ihre Bedürfnisse nicht wirksam an andere kommunizieren können, oder einfach nicht kennen.

  7. @ matthias r., ich bin gar nicht verblüfft und habe für einige Aussagen sofort lebende Beispiele vor Augen. Natürlich ist es überspitzt formuliert, was es sein soll und in der „Omnisophie“ so üblich ist… aber diese Denkweisen sind real.

  8. Ich glaube, hier kann das Wertequadrat nach Schulz von Thun gute Lösungshinweis liefern. Möglicherweise handelt es sich um Übertreibungen aus Sorge davor, das jeweils gegenteilige Extrem zugeschrieben zu bekommen…

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